Literaturnobelpreis 1915: Romain Rolland

Literaturnobelpreis 1915: Romain Rolland
Literaturnobelpreis 1915: Romain Rolland
 
Der französische Schriftsteller erhielt den Literaturnobelpreis »in Anerkennung des edlen Idealismus, der sein literarisches Werk prägt«.
 
 
Romain Rolland, * Clamecy (Burgund) 29. 1. 1866, ✝ Vézelay (Burgund) 30. 12. 1944; 1886-91 Studium der Philosophie, Geschichte und Geografie in Paris und Rom, 1895 Promotion, Lehrtätigkeit im Schulwesen (1893-1903) und an der Sorbonne (1903-12), seit 1912 freier Schriftsteller; Autor von Dramen, Romanen, Biografien sowie musikwissenschaftlichen und kunsthistorischen Arbeiten.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Als Romain Rolland 1916 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, standen die Völker Europas schon im dritten Kriegsjahr. Gerade war »Über dem Getümmel« erschienen, eine Sammlung von Essays, in denen Rolland gegen das sinnlose Sterben auf den Schlachtfeldern protestierte und vor allem Deutsche und Franzosen zur Vernunft rief. Wie unpassend seine Hoffnung auf die Fähigkeit der Menschen zur Versöhnung über nationale Grenzen und kulturelle Unterschiede hinweg den erhitzten Gemütern in seinem Heimatland erscheinen musste, hatte Rolland wohl geahnt und sich zu Beginn des Kriegs nach Genf in die neutrale Schweiz zurückgezogen. Die Schmähungen seiner vom Krieg erhitzten Landsleute gegen Rolland, der »unter den Führern der französischen Geistigkeit als einziger seine Unabhängigkeit gewahrt hat« (wie der Romanist Ernst Robert Curtius notierte), fielen äußerst deutlich aus. Erst 1938 konnte sich Rolland wieder dazu entschließen, dauerhaft nach Frankreich zurückzukehren.
 
 Auf den Spuren von Balzac und Zola
 
Allerdings erhielt Rolland den Nobelpreis für Literatur nicht nur für seine Leistungen auf dem Feld der politischen Publizistik, sondern vor allem für den Roman »Johann Christof«, der zwischen 1904 und 1912 in zehn Bänden erschienen war. Vorher war Rolland auf literarischem Gebiet vorwiegend mit Arbeiten für das Theater in Erscheinung getreten, allerdins ohne auf großes Interesse zu stoßen. »Johann Christof« jedoch wurde ein internationaler Erfolg. Das Werk verbindet Elemente des Entwicklungsromans — ein junger, künstlerisch empfänglicher Mensch erfährt Glück und Leid des Lebens — mit Konzepten des Gesellschafts- und Zeitromans, für den die französische Literatur mit Balzacs »Menschliche Komödie« (40 Bände, 1829-54) und Zolas »Die Rougon-Macquart« (20 Bände, 1872-93) namhafte Vorbilder bereitstellte. Die Titel gebende Hauptfigur von »Johann Christof« ist ein Musiker deutsch-flämischer Herkunft, der in Paris sein Glück sucht. Johann Christof ist nach dem Vorbild des jungen Beethoven gestaltet, trägt jedoch — ebenso wie die zweite Hauptfigur des Romanwerks, Olivier Jeannin — auch autobiografische Züge. Während Johann Christof energisch und willensstark auftritt, ist der Dichter Olivier ein sensibler und nachdenklicher Mensch, der seine Ideale mit größter Leidenschaft verfolgt. Beide werden enge Freunde, und Johann Christof, der bislang nur das mondäne, spektakuläre und korrupte Paris kannte, lernt in der Freundschaft mit dem jungen Franzosen nun die bessere Seite der französischen Kultur und Gesellschaft kennen. In enger geistiger Gemeinschaft bereichern und befruchten sich die beiden gegensätzlichen Künstlercharaktere, erleben Glück und Enttäuschung in der Liebe zu Frauen, nehmen aber auch an den ideologischen Debatten und politischen Kämpfen ihrer Zeit teil.
 
Vielfach wurden die formalen Mängel und die schriftstellerische Dürftigkeit des Werks kritisiert. Tatsächlich bewegt sich der Roman stilistisch auf eher schwachem Niveau und die ethischen und soziologischen Analysen geraten zuweilen unfreiwillig zu grotesken Karikaturen. Doch das zeitgenössische Publikum schätzte an dem Werk vor allem die Nähe zur Zeit und zu den eigenen Befindlichkeiten. Die Entscheidung des Nobelpreiskomitees dürfte positiv davon beeinflusst worden sein, dass Rolland ausgerechnet einen Deutschen zum Helden des Romans machte. In der Versöhnung der beiden polaren Charaktere in der Liebe zur Kunst und in edelster Freundschaft — nicht ohne jeden Anlass entdeckte man in den beiden Protagonisten Allegorien Deutschlands und Frankreichs — eröffnete sich eine utopische Perspektive für das Verhältnis zwischen den beiden verfeindeten Nachbarn. Und in der Tat gehört Rolland zu den frühen literarischen Vordenkern einer europäischen Friedensordnung.
 
 Von idealen Helden
 
Das ideale Heldentum von Johann Christof und Olivier, das sich gleichermaßen in ästhetischer Produktivität wie in moralischer Integrität und sozialer Verantwortung entfaltet, war Rollands literarisches Lebensthema. Seine frühen, wenig erfolgreichen historischen Dramen drehen sich um die individuelle Größe historischer Persönlichkeiten. Zu Rollands umfangreichem Werk gehören neben weiteren Romanen und einem Tagebuch auch mehrere musikologische und biografische Studien über Beethoven, je ein kunsthistorisches und ein biografisches Buch über Michelangelo sowie eine Biografie Tolstois und eine Mahatma Gandhis. Rolland suchte aber auch den persönlichen Kontakt mit lebenden Vorbildern. Seine umfangreiche Korrespondenz mit bedeutenden Zeitgenossen begann mit Tolstoi, der den Studenten in seinem Wunsch bestärkte, Schriftsteller zu werden. Rollands Sinn für mystische Erfahrungen hatte in ihm das Interesse für asiatische Religiösität und Kultur geweckt. Dies brachte ihn in Kontakt mit indischen Intellektuellen wie Rabindranath Tagore, Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru. Der unbestimmte Idealismus, auf dem Rollands weltanschauliche Positionen beruhten, erklärt, dass er eine Erneuerung der europäischen Zivilisation gleichermaßen durch östliche Spiritualität wie durch den Sozialismus erwarten konnte. Enttäuscht über die Unwahrscheinlichkeit sozialer Gerechtigkeit in den kapitalistischen Gesellschaften erklärte er schließlich offen seine Sympathie für den Kommunismus sowjetischer Prägung.
 
Vor diesem Hintergrund kann es nur verwundern, dass ihm ausgerechnet die inzwischen von Adolf Hitler geführte deutsche Regierung im Jahr 1933 die Goethe-Medaille verleihen wollte. Rolland lehnte ab und legte in den folgenden Jahren sein publizistisches Gewicht für die Verteidigung des demokratischen Europas gegen die faschistischen Kräfte in die Waagschale.
 
Rollands Ruhm hielt sich noch eine Weile in seinem Heimatland und im Ostblock. Heute ist sein Werk vergessen, und das nicht deshalb, weil niemand mehr zehnbändige Romane lesen mag. Schließlich wird Marcel Prousts ebenfalls in zehn Bänden erschienene Romanwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« weiterhin von Literaturkennern geschätzt und von Literaturwissenschaftlern erforscht. Dagegen fehlen Rollands Büchern vollständig jene einzigartigen ästhetischen Qualitäten, die die Produktionen seines Zeitgenossen zu klassischen Texten der Moderne machen.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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